Professor Xaver Mannerhold befand sich auf dem Wege zur städtischen Bibliothek, war mit den Gedanken allerdings ganz woanders; genauer: er träumte sich in eine späte Fernsehkarriere. Vor Tagen hatte er auf seinem Konto die Überweisung der satten Gage für vier Drehtage vorgefunden. Vier Drehtage für eine Produktion des ZDF. Sensationell! Und das Geld war nicht das Wichtige. Wichtig war, dass er damit nach seiner Emeritierung von der Theaterhochschule wieder einen Fuß im Fernsehgeschäft hatte. Die Einschaltquoten dieser Sendereihe waren bisher immer ausgezeichnet gewesen. Ein Glücksfall für ihn. Seine ehemaligen Kollegen und Studenten würden nicht schlecht staunen, ihn demnächst in einer größeren Rolle zu sehen. Er hatte keine Gelegenheit ausgelassen, im Bekanntenkreis wie nebenbei davon zu erzählen. Der Sendetermin stand schon fest und war in diversen Terminkalendern fest vermerkt. Und nun hatte heute morgen ein Brief vom ZDF im Briefkasten gelegen. Dass schon vor der Ausstrahlung eine Reaktion aus Mainz kam, erstaunte ihn. Nun ja, sagte er sich, ich habe das professionell abgewickelt und bin ein Typ, der Eindruck macht. Möglicherweise gibt es schon Termine für weitere Castings. Er hatte den Brief nicht sofort auf der Straße geöffnet, sondern ihn beherrscht in seine schicke, lederne Aktentasche gelegt, in der sich außer seinem iPhone und einer Thermosflasche mit Grünem Tee nichts weiter befand. Er ging wie auf Wolken. Je weiter er ging, desto imponierender schien ihm die Rolle, die er gespielt hatte. Vielleicht würde er demnächst in anderen Produktionen neue, größere Aufgaben bekommen. Das waren bislang nur Hoffnungen, nichts weiter. Er lächelte vor sich hin; der ungeöffnete Brief in seiner Tasche konnte allerdings ein Indiz dafür sein, dass diese Hoffnungen nicht unbegründet waren. Er überlegte, mit welcher seiner Freundinnen er sich den Film ansehen wollte, in dem er wie Phönix aus der Asche seines Pensionisten-Daseins aufsteigen würde. Eigentlich wollte er heute morgen nur in der Bibliothek einige ausländische Zeitschriften durchblättern. Nun war die Reihenfolge geändert: zuerst kam der Brief, dann folgten Zeitschriften mit Grünem Tee. Der Brief wog schwer in seiner Tasche und beherrschte seine Gedanken. Er musste an sich halten, ihn nicht schon jetzt zu öffnen. Es ist wie beim Sex, dachte er: Langsam die Spannung und den Genuss steigern bis zum Höhepunkt. Bis dahin waren es nur noch wenige Schritte.
Sie stand vor der Eingangstür der Bibliothek, mit dem Rücken zur Sonne. Er ging ihr entgegen, blinzelte ins Gegenlicht, sah ihren Umriss vor sich – einen Wust von aufgetürmten Haaren, einen roten Schal über dem Pelzkragen des langen, schwarzen Wintermantels, darunter Stiefel mit hohen Absätzen.
„Sag bloß, du kennst mich nicht mehr.“ – „Natürlich bist du es“, beeilte er sich, erkannte unter der dunklen Mähne ein klar gezeichnetes weißes Gesicht. Ihr spöttischer Tonfall, trocken wie ein edler Champagner, kam ihm bekannt vor. Sehr bekannt sogar. Nur der Name dazu wollte ihm partout nicht einfallen. Je hektischer er in seinen Erinnerungen kramte, desto tiefer gähnte das schwarze Loch, in dem ihr Name versunken war.
„Wie geht’s denn, du?“, fragte er, um Zeit zu gewinnen. – „Ach wunderbar! Ganz wunderbar. Gesundheitlich und auch finanziell. Es läuft sowas von gut!“, sprudelte sie hervor. Es klang begeistert.
Diese Stimme! Ich habe mit der dazu gehörenden Frau auf einem Sofa gesessen, einem roten Sofa, auf dem man auch liegen konnte und auf dem ich mit ihr auch einmal gelegen habe, durchzuckte es ihn. Die Erinnerung loderte wie eine Flamme in ihm auf und verbrannte die Träume, die er unterwegs geträumt hatte. Er fühlte, wie Röte in sein Gesicht schoss und sich die Muskeln zusammenzogen, um die Ansätze des Bauches zu kaschieren. Großer Gott, wie lange war das jetzt her? Sie hatte damals leuchtend rote Haare gehabt, das war’s, rote Haare, trug schwarze Kleider und rote Dessous darunter, zumindest an jenem Abend, an dem er nur Augen für sie gehabt und sich darüber vergessen hatte. Einen langen Abend und eine kurze Nacht lang. Dann hatte es ein jähes Ende gegeben. Sie hatten sich nie wieder gesehen. Bis heute.
Damals malte sie. Rote Bilder. Abstrakte rote Bilder. Yvonne. Jetzt war der Name da. Er war als Schauspiel-Professor von Freunden zu einer Finissage in Yvonnes Atelierwohnung mitgenommen worden. Er hatte das größte ihrer Bilder ironisch unter dem Aspekt der Wohnungseinrichtung betrachtet: rotes Bild über rotem Sofa und auf rotem Sofa die Künstlerin mit roten Harren – das sei das eigentliche Gesamtkunstwerk, die künstlerische Aussage des einzelnen Bildes trete dabei in den Hintergrund. Er hatte kurzfristig die Lacher auf seiner Seite gehabt. Danach hatte sich ein hitziges, leidenschaftliches Duell zwischen ihnen entwickelt, das sich erst richtig entzündet hatte, nachdem die anderen Gäste gegangen waren.
„Malst du noch, Yvonne?“, fragte er und betonte den Vornamen, um zu beweisen, wie gut er sich erinnere. Sehr gut sogar. Schmerzlich gut. Sie hatte am anderen Morgen seine Schuhe aus dem Fenster geworfen: Sie werde ihn vergessen wie ein Schönwetterwölkchen am gestrigen Himmel, hatte sie geschrien. Er hatte auf Socken drei Treppen hinunter schleichen und im Vorgarten nach seinen teuren Slippern suchen müssen. Das war mehr als eine Laune gewesen. Eine Art Raserei. Vielleicht auch Rache? Ihre Rache an einem, der sich über ihre Bilder lustig gemacht hatte? Seitdem war die Akte X-Y alias Xaver und Yvonne geschlossen. Auch wenn der Fall noch nicht gelöst war.
„Natürlich male ich noch, was denkst du denn!“, empörte sie sich. „Ich verkaufe gut!“ – „Immer noch das Rot der Leidenschaft? Ich meine, ist das immer noch deine Farbe?“ – „Beim Malen schon. Allerdings schließen sich Schwarz und Leidenschaft keineswegs aus.“ Sie fuhr sich mit den langen Fingern durch ihr nun dunkles Haar und sah ihn an. – Dieser Blick hatte ihn schon damals aus der Fassung gebracht. Wenn ich ein Vöglein wär und auch zwei Flügel hätt‘, flög‘ ich jetzt fort, auf ein nahes Dach zum Beispiel, zwitscherte es in seinem Hirn. „Das glaub‘ ich sofort, das seh‘ ich dir an.“, sagte er. Warum sie ihn in jener fernen Nacht nicht gleich ins Schlafzimmer sondern zuerst unter das rote Bild auf das schmale rote Sofa gezerrt habe, auf dem sie sich hatten abmühen müssen, und was ihr Wutanfall am anderen Morgen zu bedeuten gehabt, fragte er nicht.
Er müsse jetzt langsam los, sagte Mannerhold und klemmte die Aktentasche zum Beweis seiner Aktivität unter den Arm: er habe in der Bibliothek noch einiges zu erledigen. Damit war die Abschiedsphase eingeleitet, dachte er. – Sie schien erstaunt: „Du auch?“ – Nun sind wir uns zehn Jahre lang erfolgreich aus dem Weg gegangen und haben heute beide zur selben Zeit in der Bibliothek zu tun. Das ist kein Zufall mehr, das hat schon Schicksal-Charakter. Oder hat sie ihm aufgelauert? Aber aus welchem Grund? Er war ratlos.
Sie redete. Sie recherchiere hier für das Buch, an dem sie arbeite. Sie habe vor Jahren eine so ausgezeichnete Diplomarbeit über Mal-Therapie verfasst, ein Feld auf dem sie – das nebenbei – seit geraumer Zeit überaus erfolgreich sei, dass man sie gebeten habe, ein Buch darüber zu schreiben. Ja, sie sei eben so enorm gut vernetzt, dass zur Zeit alles perfekt laufe. „Du bist inzwischen Pensionär?“ Wieder dieser Spott in ihrer Stimme. „Und wie lebt sich’s so?“
Er zwang sich zu einem Lächeln: „Ich lebe mit Lotta zusammen und bringe ihr allerhand ungewöhnliche Tricks bei. Das bereichert unser Zusammenleben kolossal.“ Nach einer Pause, in der er genüsslich ihre Irritation konstatierte, ergänzte er: „ So eine Terrier-Hündin ist äußerst gelehrig. Es gibt tatsächlich noch erstaunlich liebevolle, intelligente und anhängliche weibliche Wesen.“ Das saß, fand er. „Leider muss ich sie oft allein lassen, wenn ich einen längeren Dreh habe wie neulich beim ZDF.“ Er hatte es nicht lassen können und den Köder ausgeworfen; sie biss an. „Du arbeitest wieder beim Fernsehen?“ – Er wiegelte ab: „Eine Art Serie. ‚Aktenzeichen XY ungelöst‘. Da bittet die Polizei um Mithilfe bei ungelösten Kriminalfällen. Dazu werden entscheidende Szenen des jeweiligen Falles nachgestellt. Die künstlerische Herausforderung hält sich in Grenzen, aber es bringt Geld. Es ist halt ein sehr beliebtes Format.“ Endlich konnte er ihr Paroli bieten. – „Und wann kann ich dich sehen? Im Fernsehen, meine ich.“ – „Bald“, sagte er und betrat die Bibliothek. – „Schau ich mir auf jeden Fall an!“, versprach sie, grüßte und verschwand hinter einem Regal.
Er nahm sich zwei Zeitschriften, zog sich in einen Sessel zurück, wollte gerade die Thermoskanne auf das Tischchen vor sich stellen, da bemerkte er, dass sie ihn durch die Lücken in den Bücherreihen beobachtete. Möglichst unauffällig ließ er das Pensionisten-Requisit wieder in der Tasche verschwinden. Jetzt hier Grünen Tee trinken und in Zeitschriften blättern, kam ihm plötzlich spießig vor. Er griff zum Brief, öffnete ihn genüßlich, las. „Scheiße!“, entfuhr es ihm.
Sein Ruf übertönte die gedämpften Stimmen des Leseraumes. „Was ist passiert?“, fragte Yvonne. – „Ich brauche jetzt einen Schnaps“, sagte er und stand auf. – „Ich auch“, sagte sie, „so wichtig ist das hier nicht. Ich komme mit. Nun erzähl‘ schon.“
Auf dem Weg in die nächste Bar erzählte er, dass der Beitrag mit ihm in der Hauptrolle nicht mehr ausgestrahlt werden könne, da die Polizei inzwischen den betreffenden Fall gelöst habe. Man bäte um Verständnis.
Sie schaute ihn an. „Und nun?“ – „Schau mich nicht so an“, sagte er. „die Zeit des großen Auftritts ist vorbei. Jetzt können wir daran gehen, in aller Ruhe den anderen Fall zu lösen.“ – „Welchen anderen?“ – „Unseren. Xaver und Yvonne, X-Y ungelöst …“