Jonathan Frantzen, Schriftsteller aus den USA, erzählte in einem Fernsehinterview, er liebe das deutsche Wort obwohl. Er sagte das mit einem hintergründigen Lächeln. Als sei obwohl mehr als nur ein Wort, als stecke eine gewisse Geisteshaltung dahinter: Wie wenn einer losstürme und nach den ersten Metern sich noch einmal nach einem anderen Weg umschaue, bildlich gesprochen. Obwohl – direkt gesagt hat Frantzen das nicht, aber die Art, wie er das nicht gesagt hat, legt nahe, er könne es so gemeint haben: Da sagt jemand einen Satz und leitet dann mit seinem obwohl die Beschreibung des Gegensatzes ein. Ich, zum Beispiel, schreibe gerade diese Glosse, obwohl ich noch keine Ahnung habe, wie sie enden soll. Das obwohl führt mich letzten Endes zum Nachdenken über das, was ich gerade tue. Ganz schön tückisch, dieses Wort. Klar, dass die Pegida-Leute es nicht nutzen können; Nachdenken stört beim Schreien.
Mir sind erst nach Frantzens Bemerkung die Augen darüber aufgegangen, wie viele unausgesprochene obwohls es in meinem Alltag gibt. Ich gehe zum Beispiel zum Markt, treffe meinen Gemüsebauern, will bestellen, da fällt er über mich her: schüttelt meine Hand, fragt nach meiner Gesundheit, ob meine Frau noch bei der Volkshochschule arbeite, wie es unserem Sohn beruflich gehe, und was die Enkelkinder machten. Ich antworte brav in kurzen Sätzen, bekomme dann mein Gemüse und kann gehen. Jedesmal, wenn ich an seinen Stand trete, haargenau die selben Fragen von ihm, die selben Antworten von mir. Manchmal erscheint er mir schon im Traum, rattert seine Fragen herunter, ich meine Antworten. Warum fragt er mich immer dasselbe, obwohl er meine Antworten schon kennt, und warum antworte ich höflich, obwohl mir seine Fragerei längst lästig ist? Als Rentner bin ich für die Markt-Einkäufe zuständig und habe zweimal die Woche das Vergnügen, macht knappe dreihundert Kurzinterviews am Gemüsestand pro Jahr. Ich habe mich noch nicht dazu durchgerungen, ihn mit meinen Antworten zu begrüßen, bevor er mich fragen kann. Wir wollen beide nur höflich miteinander umgehen, obwohl wir uns nicht sonderlich für einander interessieren, und behalten deshalb das Ritual bei.
„Ja“, sagte meine Frau dazu, als ich ihr davon erzählte, mehr nicht. „Ja.“ – „Aber …“, begann ich mich gegen die gefühlte Geringschätzung meiner Erkenntnis zu wehren, da fuhr sie mich schon an: „Du mit deinem hässlichen ‚aber‘ – darüber solltest du mal nachdenken. Dass du immer widersprechen musst. Kaum sage ich etwas, bellst du mich an wie ein Terrier mit deinem ewigen ‚aber‘! Statt dich über den Gemüsebauern auszulassen, solltest du dir mal lieber Gedanken um unsere Weihnachtspost machen! Das wäre konstruktiv.“ Als erfahrener Ehemann schluckte ich den Terrier stillschweigend herunter und machte mir Gedanken. Es war Anfang November und Weihnachten findet erst so um den 24. Dezember herum statt. Seit jenem Tag beschäftige ich mich nun damit, obwohl ich der Auffassung bin, dass die Sache eigentlich noch reichlich Zeit hätte. Das Weihnachtspost-Thema besitzt, wie sich zeigen wird, auch ein reiches obwohl-Potential.
Der erste Postkartenweihnachtsmann trifft bei uns schon Ende November ein. Er kommt aus London und stammt von Fred und Melanie. Ein kurz hingekritzelter Gruß und der Hinweis, sie hätten in diesem Jahr Urlaub auf Teneriffa gemacht, das ist alles, der Rest ist vorgedruckt. Man ahnt, sie schicken hunderte solcher Karten; bei der an uns gerichteten müssen ihre Finger schon klamm vom Adressieren gewesen sein. Natürlich erwarten sie derartige Grüße auch von uns, das macht uns die Antwort einfach: wir unterschreiben die gedruckten Weihnachtswünsche, als Draufgabe gibt’s in diesem Jahr den Zusatz „Waren in den Ferien in Neuruppin.“ Ich vermute, Fred und Melanie hängen unsere Karte zu vielen anderen an eine Leine in ihrem Wohnzimmer; wenn Freunde kommen, wird nachgezählt, wer die meisten Karten bekommen hat und welche die längste Reise hinter sich hat. Wahrscheinlich halten sie Neuruppin für ein ehemalig deutsches Kolonialstädtchen auf Samoa und staunen über unseren exotischen Urlaub: Ja, die Germans haben’s drauf. Fred und Mel sind Urlaubsbekanntschaften. Eines Morgens irgendwo in der Türkei legten wir uns auf die Badetücher, die sie vor dem Frühstück auf ‚unseren‘ Liegen am Pool ausgebreitet hatten. Seitdem schreiben wir uns jedes Jahr, obwohl wir uns nichts weiter als Fröhliche Weihnachten zu sagen haben.
Ganz anders sind die Weihnachtsbriefe, die in Wirklichkeit kleine Romane sind. Sie treffen meistens kurz vor Heiligabend ein und wollen gelesen werden, denn es könnte sein, dass ich dem Schreiber nach dem Kirchgang begegne und er mich anschaut mit diesem Na-was-sagst-du-zu-meinem-großartigen-Brief?-Blick und ich dann irgendetwas Nettes dazu sagen muss, obwohl ich diese Briefe ätzend finde, speziell die von Martin. Ein Jahr lang meldet er sich nicht, spielt toter Mann und dann kommt, wie ein Graupelschauer aus heiterem Himmel, zu Weihnachten sein Brief: vier DIN A4-Bogen doppelseitig eng mit Schreibmaschine beschrieben; Goethe, Fontane, Wilhelm Busch und Martin Luther quellen aus jeder Zeile und treffen mich mit ihren geballten Lebensweisheiten wie Boxhiebe einen Punchingball. Dazwischen das Lob der Frau, die ihn so standhaft erträgt, das Lob des Enkelsohnes, der Anstalten macht so klug zu werden wie sein Großvater, dann das Lob der Natur, die sich in seinem Garten so üppig entfaltet, dann der Hinweis, sie hätten nur bescheiden geurlaubt – aber einmal pro Jahr nach Palermo müsse sein; dann natürlich der Kommentar zur Flüchtlingskrise – auch Josef und Maria samt Sohn seien Flüchtlinge gewesen und hätten in Ägypten Asyl gesucht, und so weiter und so weiter. Obwohl er uns am Ende mit kleiner Schrift frohe Festtage wünscht, wünscht er hauptsächlich sich, dass wir zur Kenntnis nehmen, was für ein toller Autor er ist; er hat keinen Brief, er hat einen Briefroman geschrieben, den Roman seines Lebens, Jahr für Jahr folgt ein weiteres Kapitel. Natürlich erhalte ich, wie alle seine Bekannten, kein Original sondern nur Kopien mit handgeschriebener klitzekleiner Anrede und ebensolchem Gruß; das Original, vermute ich, wird abgeheftet und für die Nachwelt aufgehoben.
Obwohl ich Martins weihnachtliche Selbstdarstellung ziemlich penetrant finde, muss ich zugeben, dass es natürlich schon reizvoll sein kann, so hemmungslos von sich zu schreiben und das dann seiner Leserschaft unter dem Vorwand eines Weihnachtsgrußes als Lektüre anzudienen. Haben wir nicht alle den Drang, uns darzustellen? Bislang schrieb ich mit der Hand Postkarte um Postkarte, jede mit kurzem, individuell abgefasstenText, eine Mühsal; mit den letzten Weihnachtsgrüßen wurde ich erst zu Silvester fertig, das analoge System ist eben enorm zeitaufwändig. Als Kind der digitalen Revolution könnte ich natürlich meine diesjährigen Weihnachtsgrüße per Computer als Serienbriefe verschicken, dann gäbe es kein Halten mehr. Nehmen wir beispielsweise diesen Text. Mit einem „Fröhliche Weihnachten“ in der Betreffzeile versehen und einem „Liebe Leserin, lieber Leser“ als Anrede und einem „Euer A.Kö.“ am Schluss. Ein Knopfdruck und ab damit, quer durchs E-Mail-Adressbuch, einfacher geht’s nicht. Oder gar …
Meine Frau tritt ins Zimmer, findet mich träumend vor dem Computer: „Na, wie weit bist du mit unserer Weihnachtspost?“ – „Fertig!“, sage ich spontan und zeige auf diesen Artikel. „Ich werde ihn nicht als Weihnachtspost verschicken sondern zu Weihnachten im Internet posten, ein Weihnachts-Post, sozusagen. Jeder, der ihn lesen will, kann, muss aber nicht. Na, was sagst du?“
Statt einer Antwort legt sie mir vierzehn Weihnachtspostkarten auf den Tisch; sie sind schon adressiert und frankiert, es gibt kein Zurück mehr. „Ich bringe sie dann später zum Briefkasten“, lächelt sie und verschwindet.
Warum Frauen immer das letzte Wort haben, frage ich mich wieder einmal, obwohl ich die Antwort längst kenne.