„In sechs Wochen feiern wir unseren zehnjährigen Hochzeitstag. Du siehst, mein Schatz, so etwas vergesse ich trotz meiner Arbeit nicht.“ Klaus, der als Ingenieur beim städtischen Bauamt gut beschäftigt war, prostete mit der Kaffeetasse seiner Elke zu. „Ich habe mir auch schon etwas ausgedacht …“ – Sie füllte seine bedeutungsvolle Pause mit einem knappen ‚Aha‘ und griff zur Morgenzeitung. – „Interessiert dich wohl nicht sehr?“ – „Doch, doch“, beeilte sie sich und begann zu lesen. – „Ich sage nur Kalifornien …“ – Elke ließ die Zeitung sinken – „unser Hotel liegt nur wenige Autominuten von Brasilien entfernt …“ – „Wieso – ich versteh nicht …“ – eine irre Hoffnung blühte plötzlich in ihr auf und verwelkte wenig später mit seiner Erklärung: Kalifornien und Brasilien seien Campingplätze am Schöneberger Strand an der Ostseeküste, nicht weit von Kiel. Wenn sie mal etwas Außergewöhnliches erleben wolle, könne sie das dort im Februar: „Allein mit Meer und mir!“, scherzte er.
Ihr sei es im Februar an der Ostsee auch mit ihm entschieden zu kalt, sagte Elke und verkroch sich wieder hinter ihrer Zeitung; wenn sie schon ihr kuscheliges Zuhause verlasse, um an ihrem zehnten Hochzeitstag etwas Außergewöhnliches zu erleben, dann irgendwo im warmen Süden. Damit das klar sei.
Der warme Süden sei zu dieser Zeit nur per Flugzeug zu erreichen und für ihr eheliches Reisebudget entschieden zu kostspielig, widersprach Klaus. Ihm schwebe ein Wochenendurlaub vor, kurz, aber dafür besonders eindrücklich. Dazu biete sich im Februar nun mal die deutsche Ostseeküste an: preisgünstig, leergefegt von Touristen, sturmgepeitscht von Tiefs wie Egon, deren Gewalt man zum Beispiel vom kuschelig-warmen California-Hotel aus herrlich beobachten könne. Nur sie beide, am Hochzeitstag in einer Hochzeitssuite im Sturm der Elemente! Das verspreche doch ein originelles Erlebnis zu werden, an das sie beide noch lange zurückdenken könnten. „Abgemacht?“
Sie friere schon bei dem Gedanken daran. Im Februar zum Hochzeitstag an die Ostsee zu fahren – so etwas falle ihr im Traum nicht ein, sagte sie. – „Aber mir“, sagte er und versuchte ein warmes Lächeln: „Wir gehen toll essen und kuscheln uns hinterher ins Bett und schauen dabei übers wilde Meer.“
„Schön“, lächelte Elke zurück, „Essen und Kuscheln ja, aber bitte auf Gran Canaria. Wir könnten da kuschelig am Strand liegen und wild übers Meer schauen – sogar nackt, wenn du gerne willst. Warm genug wäre es. Und wir brauchten dann wirklich nur ein winziges Köfferchen mitzunehmen …“
Sein Lächeln kühlte sich ab. „Lass mal deine Witze“, sagte er mit Nachdruck, „komm mal runter von deinem Traum und lande auf den Boden der Realität, und der heißt Kalifornien, dicht bei Brasilien, Gemeinde Schönberg, deutsche Ostseeküste. Da kannst du so viel Gepäck mitnehmen wie du willst, wir fliegen nicht, wir nehmen das Auto.
Sie saßen beim Frühstück und taten so, als läsen sie Zeitung. Klaus schielte über den Rand zu Elke hinüber. Sie hielt die Augen geschlossen. „Schläfst du?“, fragte er. – „Nein“, sagte sie mühsam beherrscht und starrte mit zusammengepressten Augen ins Blatt: „Wir müssen nicht wegfahren. Wir müssen unseren Hochzeitstag nicht feiern. Wir müssen uns deswegen nicht streiten.“ – Er ließ seinen Zeitungsteil sinken. „Genau. Ich will mich auch nicht streiten, ich wollte dir eine Freude machen – und habe schon gebucht!“
In den folgenden beiden Wochen sprachen sie kaum miteinander. Er könne ja allein hinfahren und seinen Hochzeitstag feiern. Sie würde dann im Jahr darauf mit Freundinnen ihren Scheidungstag begehen, ließ sie verlauten. Er kaufte ihr bündelweise Tulpen als Versöhnungsangebot. „Alles für dich!“, lächelte er, wenn er ohne Aufforderung das Geschirr abtrocknete oder sich beim Pinkeln auf die Brille gesetzt hatte. – „Das ist ja das Problem!“, stöhnte sie. – „Wieso?“, fragte er. – „Ach …“ sagte sie.
An dieser Stelle ist ein Zwischenruf fällig: Das ‚Ach‘ einer Frau kann so vieldeutig sein, dass man Bände damit füllen könnte – denken wir nur an das ‚Ach‘ der Alkmene in Kleists Komödie ‚Amphitryon‘ – der brave antike Feldherr wusste auch wenig mit dem geseufzten ‚Ach‘ seiner Gattin anzufangen, verstand sie und die Welt nicht und versuchte durch Wiederholen des Hergebrachten wettzumachen, was ihm an Einsicht fehlte.
Eines Tages, Ende Januar, sie saßen wortlos am Frühstückstisch, schob Klaus seiner Elke verstohlen einen Prospekt über den Tisch. Das Hotel Kalifornia schillerte verführerisch in den schönsten Farben, die Hochzeitssuite lockte mit einem Prachtbett und einem fantastischen Ausblick aufs sommerliche Meer, alles in Hochglanz. Die Ostsee sah aus wie gedruckt. „Sauna und Spa gibt’s natürlich auch“, murmelte Klaus. Kannst ja mal einen Blick drauf werfen.“ – Sie warf keinen Blick darauf. – Ob er schon storniert habe, wollte sie beim Abräumen wissen. – Nö.“ – Ob er im Ernst glaube, dass sie mit ihm dahin fahre?“ – „Glaub‘ schon.“ – „Ach!“
„Kauf dir noch was schönes Warmes, das du ausziehen kannst, wenn’s dir da oben zu heiß wird!“, witzelte Klaus gelegentlich, wenn Elke in der Nähe war. ‚Da oben‘ sollte ‚Kalifornien‘ heißen, aber er hütete sich, es zu sagen; er ließ Blumen sprechen und hoffte, er würde verstanden.
Der Februar begann mit einem strahlend blauen Himmel, darauf weiße karibische Wölkchen wie gemalt. Schnee lag, Wind blies, Sonne strahlte, als habe Klaus sie extra dafür bezahlt. Die Natur ist so unberechenbar wie das ‚Ach‘ einer Frau – mit diesem Allgemeinplatz erklären wir die Tatsache, dass trotz niedriger Temperaturen Elkes eisiges Herz allmählich dahin schmolz und sie gemeinsam mit ihm nach Kalifornien fuhr. Ein Wochenende ohne Termine, ohne Smartphone, hatten sie sich versprochen. Sie wollten unerreichbar sein für alle und nur für einander da. Über alles reden wollten sie, worüber sie jahrelang geschwiegen hatten – ein Eheseminar zu zweit.
Nach der ersten Nacht im Hotel waren sie am späten Vormittag am Strand entlang in die nächste Siedlung gewandert. Die Luft war klar und kalt und roch nach Meer. Sie wolle sich schön machen lassen für den Abend, hatte sie ihm zugezwinkert; er könne sie in einer Stunde vom Friseur abholen. Es gäbe ein kleines italienisches Restaurant in der Nähe – besser sie träfen sich dort und äßen eine Kleinigkeit zu Mittag, schlug er vor, bevor sie dann am Abend opulent im Hotel dinierten. – Abgemacht. – Klaus schlenderte durch die Gassen, spazierte schließlich über einen Parkplatz zum Italiener und bestellte einen Tisch für sie beide. Als er das Restaurant verlies, sah er den alten Mercedes. Der beleibte Fahrer hinterm Steuer fuhr an die Parkplatz-Schranke und versuchte vergeblich, das Parkticket in den Automaten zu schieben. Es misslang, die Arme waren zu kurz. Statt auszusteigen, fuhr er zurück und versuchte mit einem neuen Manöver, näher an den Automaten heranzukommen. Wieder vergeblich. “Darf ich Ihnen helfen“, fragte der gutgelaunte Klaus, ließ sich vom dankbaren Dicken das Ticket geben und steckte es in den Automaten-Schlitz. Die Schranke hob sich und Klaus schaute grinsend dem davon fahrenden Wagen nach.
Die herunter klappende Schranke traf ihn mit voller Wucht auf den Kopf; er torkelte benommen zur Seite. „Nicht mit einer Gummikante abgesichert – solche Schranken sind doch verboten“, dachte der Ingenieur in ihm noch, ehe ihm das Blut in Strömen von der Halbglatze über Stirn und Augen lief. Im Nu war sein Gesicht blutverschmiert. Aus dem Restaurant kamen ihm Menschen entgegen, stützten ihn, bis Sanitäter ihn zum nächsten Arzt brachten. Dort war die Platzwunde bald versorgt. Ob man ihn zurück in sein Hotel bringen solle? Er lehnte dankend ab, er brauche etwas frische Luft und wolle laufen. Man ließ ihm seinen Willen.
Wind war aufgekommen. Es war wärmer geworden. Der Wind zerrte an Elkes Frisur, als sie zum Italiener ging. Kaum Gäste im Lokal, auch Klaus nicht. Natürlich nicht. Warum musste immer sie auf ihn warten und nicht umgekehrt? Sie fühlte Ärger in sich aufsteigen. Wenigstens an ihrem Hochzeitstag hätte er pünktlich sein können. Sie setzte sich und winkte dem Kellner: „Eine Tomatensuppe!“ Der starrte sie an: Ob sie möglicherweise die Frau des Mannes sei, der für sich und seine Gattin einen Tisch bestellt habe? So viele fremde Gäste gäbe es ja nicht zur Zeit. Der Mann werde übrigens nicht kommen, der sei blutüberströmt weggebracht worden. – „Weggebracht? Wohin?!“ – Nach Schönberg wahrscheinlich. Sah schlimm aus! Lebt aber noch,“ tröstete er sie mit norddeutscher Freundlichkeit. Elke ließ ihre Tomatensuppe stehen, bestellte ein Taxi. „Dat kann dauern“, sagte der italienische Kellner mit plattdeutschem Zungenschlag, es gäbe nur wenig Taxen um diese Zeit.
Diese Erfahrung machte auch Klaus. Der Rückweg war länger als gedacht. Ein Taxi brauste in der Gegenrichtung an ihm vorbei, sonst nichts. Die Gegend schien wie ausgestorben. Er verfluchte seine Idee, ein Smartphone-freies Wochenende zu verleben.
Graupelschauer schlugen ihm ins Gesicht. Er ging, so schnell er konnte. Es dauerte lange.
Nach einer Stunde erreichte er das italienische Lokal, der Kellner wollte gerade schließen. „Sie“, staunte er, „Ihre Gattin war vorhin hier und ist jetzt zu Ihnen ins Krankenhaus gefahren. Nach Schönberg wahrscheinlich.“ – „Bringen Sie mir irgendwas Warmes, eine Suppe meinetwegen.“ – „Die Küche ist dicht.“ – Dann einen Schnaps!“ – „Wir haben schon zu!“ – „Und noch einen zweiten, sonst fall ich um!“, stöhnte Klaus. „Und ein Taxi nach Kalifornien.“ – „Dat kann dauern. Mit dem Taxi, meine ich.“
Statt zu warten, machte sich Klaus zu Fuß auf den Weg: Regen, Wind, Schnee und Sand – Ostsee im Februar, das volle Programm. Als er völlig erledigt nach einer Stunde an die Hotelbar stolperte, saß Elke dort und trank Schnaps. Sie sprang auf: „Was um Himmelswillen …?!“ – „Später!“ Er ging auf sie zu und versuchte sie zu küssen. – „Du hast getrunken!“ – „Das auch!“, sagte er und versuchte ein Lächeln: „Hab ich dir nicht versprochen, diesen Hochzeitstag würden wir so schnell nicht vergessen? Hab’s gehalten. Alles Weitere oben.“ – Sie stiegen kichernd hinauf in ihre Hochzeitssuite. „Und sonst bist du okay?“, fragte sie. – „Völlig fit! Muss mich nur mal kurz …“. Er setzte sich aus Bett, streifte die Schuhe von den Füßen, ließ sich in die Laken fallen. „Ich habe uns für den Abend ein geiles Menü bestellt“, gähnte er.
Vorm Fenster streckte ein neues Sturmtief seine ersten Ausläufer über den Deich, Schaumkronen tanzten auf dem Wasser. „Nun hast du wie gewünscht dein Meer und mich!“, lachte Elke am Fenster, „Und? Was sagst du?“ – Klaus sagte nichts. Klaus schlief.