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Ende der Sitzung

Von der letzten Reihe aus war der Weg zum Rednerpult länger als zur Tür ins Foyer und zu den Toiletten. Ich saß taktisch äußerst günstig. Niemand konnte mir über die Schulter sehen, wenn ich auf meinem Smartphone Sudokus löste. Für viele war ich gar nicht da, obwohl ich da war. Wenn ich nicht da war, fiel es kaum auf. Ich hielt mich zurück. Meistens. Manchmal jedoch ließ ich mich zu Zwischenrufen hinreißen. Ein knackiges „Lüge“ oder ein gut gestütztes ironisches „Hahaha!“ verschaffte mir Aufmerksamkeit von den vorderen Plätzen. Als ehemaliger Schauspieler wusste ich meine Stimme einzusetzen, wenn es darauf ankam. Meine Theaterlaufbahn lag schon Ewigkeiten zurück; der große Durchbruch war mir auf der Bühne nicht gelungen. Aber auf dem langen Weg durch Hinterzimmer und Regionalkonferenzen meiner Partei bis in den Bundestag war mir eine gewisse Theatererfahrung hilfreich gewesen: Ein guter Auftritt sei die halbe Miete und ein beredtes Schweigen könne die Spannung enorm steigern, wusste ich. Ich konnte wie auf Knopfdruck lächeln oder betroffen wirken, konnte Blumen in Fußgängerzonen verteilen, ohne zu zeigen, wie mühsam ich das fand. Ich konnte in Diskussionen überzeugend überzeugt wirken und bei Sprüchen wie „Wir werden es schaffen, das Ruder herumzureißen“ Begeisterung auslösen. Meine Partei hatte das Ruder nicht herumgerissen, mich aber als Abgeordneten in den Bundestag geschickt. Da saß ich nun als einer der sprichwörtlichen Hinterbänkler, machte meine Arbeit und vertrat das Volk, genauer, meine Wähler aus diesem Volk. Heute, am letzten Tag vor der Sommerpause, sollte sich erweisen, wie wichtig Hinterbänkler sind. Nur ein Tagungspunkt stand heute noch an: Die Abstimmung über den Antrag, den grauen Kreuzflügelwinzler in den Kanon der bedrohten Arten aufzunehmen. Damit wäre der Parlamentskalender bis zur Sommerpause abgearbeitet.

Ein großer Teil der Abgeordneten schien kein Interesse am grauen Kreuzflügelwinzler zu haben – das Plenum war nur halb gefüllt. Die Stellvertreterin des Bundestagspräsidenten wies darauf hin, dass beim nun folgenden Prozedere jeder Abgeordnete auf ihre Aufforderung hin den Sitzungssaal verlassen und auf ein Glockensignal hin den Saal durch eine der drei mit „Ja“, „Nein“ oder „Enthaltung“ gekennzeichneten Türen wieder betreten müsse. Bei unklaren Mehrheitsverhältnissen wie vor dieser Abstimmung werden die Stimmen im sogenannten Hammelsprung gezählt.

Durch meinen Wahlkreis sollte damals eine Stromtrasse gelegt werden; in der allgemeinen Aufgeregtheit darüber machte ein kleines Insekt von sich reden, das just da lebt, wo eventuell gebaut werden sollte, und das, würde gebaut werden, vom Aussterben bedroht wäre. Der graue Kreuzflügelwinzler musste sich auf Lobbyisten wie mich verlassen können, wollte er weiterexistieren und als Schmetterling dahin taumeln können. Scheiterte die Abstimmung, würde das kleine Insekt völlig ungeschützt einer ungewissen Zukunft entgegen krabbeln.

Während die Präsidentin uns nochmal darauf hinwies, wie wichtig es sei, nach ihrem erneuten Klingelzeichen wieder vollständig zu erscheinen – wenn weniger als die Hälfte der Abgeordneten abstimme, müsse sie die Sitzung mangels Beschlussfähigkeit beenden – spürte ich ein ungutes Rumoren im unteren Bauchbereich. Angesichts der anstehenden Sommerpause hatte ich mich mit Kollegen gestern Abend etwas zu ausschweifend auf den kommenden Urlaub gefreut. Kaum ertönte das Signal, rannte ich los.

Türen und Türschlösser können mich zur Verzweiflung bringen, immer schon. Begonnen hatte es in meiner Anfängerzeit am Theater, bei einer kleinen Landesbühne: Ich liege als Liebhaber in einer Boulevardklamotte mit einer Ehefrau im Bett, da naht der Bühnen-Ehemann. Wohin fliehen? Laut Textbuch in den Schrank! Ich hechte wie verabredet hin, reiße an der Tür, sie geht nicht auf. Klemmt wahrscheinlich, was bei Abstechern öfter mal vorkommen kann. Ich reiße erneut und heftiger; es gibt keinen Ausweg, ich muss da rein in diesen verdammten Schrank, wenn die Vorstellung wie geplant weiterlaufen soll. Ich reiße mit aller Kraft – und halte die Schranktür in der Hand. Da öffnet sich die Zimmertür, der Ehemann tritt ein, sieht mich, der ich eigentlich unsichtbar im Schrank warten sollte, mit der Tür in der Hand davor. Der Schauspiel-Kollege starrt mich an: „Was soll das?“, fragt er entgeistert. – „Die muss zur Tischlerei“, sage ich und marschiere in Unterhosen mit der Tür unterm Arm zur Tür hinaus. Gelächter im Publikum, bevor der Vorhang fiel, weil die Handlung nicht weiter lief.

Das Kapitel Theater war schon seit Jahrzehnten abgeschlossen, das Problem mit den Türen nicht: Wir saßen vor Jahren im Urlaub in einem Café in der Toscana, ich musste mal austreten. Die Toiletten befanden sich unten im Keller. Wunderschön. Alte Mauern, Räume wie Verliese, hohe Türen von der Decke bis hinunter auf den Steinfußboden. ‚Wenn die Tür mal klemmt, kommst du hier nie heraus‘, dachte ich, während ich so dasaß und spielerisch am Türknopf drehte. Nichts. Da packte mich Panik. Ich drehte nach rechts, nach links, riss an der Tür, klopfte, drückte. Nichts. Alles massiv und wie für die Ewigkeit gemacht. Das bedeutete Warten bis zum Sankt Nimmerleinstag. Eingeschlossen in dieser Scheiß-Toilette. Ich bollerte in Panik gegen die Tür: „Hallo! Aufmachen!“ Keine Reaktion. Ich sank schließlich auf dem Sitz zusammen: Warten, bis ein Putzmensch oder ein Gast kommen würde, den ich um Hilfe bitten könnte. Schließlich ergab ich mich in mein Schicksal und fummelte nur noch abwesend am Drehgriff – und die Tür öffnete sich. Meine Frau saß oben, trank inzwischen ihren zweiten Cappuccino und schüttelte nur den Kopf, als sie mich endlich kommen sah. Diese klaustrophobische Erfahrung hatte Konsequenzen.

Ich vermeide seitdem Sitzungen auf fremden Toiletten. Oder, wenn es denn sein muss, schließe ich nicht hinter mir ab. Das hat mir schon einige unfreiwillige Besucher bei dieser eher intimen Angelegenheit beschert. Die fahren bei meinem Anblick erschreckt zurück und entschuldigen sich, als hätten sie die Tür aufgebrochen. Trotzdem, schön ist es nicht.

Neulich war ich zu einer großen Geburtstagsfeier eingeladen; das schwedische Holzhaus unserer Freunde barst fast voller Gäste. Und irgendwann am Abend war es wieder so weit: Ich musste einen Abstecher in die Porzellanabteilung machen. Diesmal schloss ich ab, wollte dort auf keinen Fall von Freunden oder Bekannten überrascht werden. Schickte ein Stoßgebet zum Himmel, ehe ich schließlich am Türknauf drehte. Ein schwedisches Modell. Als ich gehen wollte, drehte ich nach rechts – nichts. Mein Gott, nicht wieder dieses Theater! Etliche weitere panische Versuche, die Tür blieb zu. Ich hätte um Hilfe rufen rufen können, das Haus ist hellhörig genug, aber das verbot die Ehre. Ich drückte vorsichtig das Schiebefenster nach oben, räumte das Fensterbrett frei, zwängte mich durch die untere Fensterhälfte ins Freie, schob wie ein Dieb das Fenster wieder zu und mogelte mich unverfänglich durch den Haupteingang wieder unter die Gäste. Aus sicherer Entfernung sah ich die lange Schlange vor der Toilette und verspürte das dringende Bedürfnis, mich baldmöglichst zu verabschieden. 

Durch die milchgraue, panzerglasfeste Tür der Bundestags-Toilette hörte ich das Glockenzeichen, das zur Abstimmung rief. Drei Minuten noch! Mein Blick blieb auf dem modernen, silberfarbenen Drehgriff hängen. Hatte ich unbedacht beim Hereinstürmen die Tür verschlossen?! Da war es wieder, dieses unsägliche Angstgefühl: Ich bin allein. Eingeschlossen. Komme nie wieder hier heraus. „Unsinn“, schrie ich dagegen an, “Ruhe bewahren!“ Einmal nach links drehen und ich bin frei! – Oder nach rechts? Mein Herz hämmerte. Ich stieß gegen die Tür. Sie bewegte sich nicht. Stieß noch mal, drückte, klopfte! Nichts bewegte sich. „Die Abstimmung beginnt“, tönte es aus dem Lautsprecher. Oh verdammt. Hatte ich überhaupt schon am Knopf gedreht? Ich drehte verzweifelt, rechts-links!, drückte die Tür nach außen. Nichts. Sank, die Hand am Griff, auf den Sitz zurück – und zog dabei die Tür auf. Sie öffnete sich nach innen! Mein Gott, das sollte man nun wissen!

Ich stürmte ins Plenum. Zu spät. Die Abstimmung war beendet. Für die erforderliche Zahl der Stimmberechtigten fehlte ein Abgeordneter. Ich. Laut Geschäftsordnung musste die Sitzung wegen Beschlussunfähigkeit geschlossen und die Abstimmung auf einen Termin nach der Sommerpause verschoben werden.

Ich verließ mit einem flauen Gefühl im Magen den Bundestag und fuhr mit einem Schuldgefühl gegenüber dem grauen Kreuzflügelwinzler in den verdienten Urlaub.

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